Claudia
Die letzten unfreien Wahlen
In wenigen Wochen stehen bei uns Kommunal- und Europawahlen an. In freien Wahlen wohlgemerkt, und mit der Sicherheit, dass die ausgezählten Stimmen am Ende auch tatsächlich das Ergebnis der Wählermeinungen repräsentieren. Das war vor 30 Jahren anders.
Damals fanden am 7. Mai 1989 ebenfalls Kommunalwahlen statt. Allerdings stand das Resultat schon vor den Auszählungen fest. Es war mehr oder weniger ein offenes Geheimnis, nur beweisen konnte es bis zu diesem Zeitpunkt niemand.
Dieses Mal war es anders, oder besser: wurde anders. Die ganze Welt bekam den endgültigen Beweis für die Betrügereien des SED Regimes geliefert.
Die Bürgerrechtler hatten im Vorfeld zum Boykott der Wahlen aufgerufen und diese gleichzeitig bei den Auszählungen umfassend begleitet. Ein legales Vorhaben, verankert im Wahlgesetz der DDR und trotzdem ein Akt des Widerstands.
Wählen war kein Recht, sondern für viele eine lästige Pflicht. Das Wahlen etwas verändern können, daran glaubten die wenigsten. Wie wenig, wurde am 1. Mai, eine Woche vorher auch für mich als Kind sichtbar. Ich erinnere mich gut an den Demonstrationszug und daran, wie während des Zuges an jeder Querstraße Leute abbogen und rennend um die nächste Ecke verschwanden. Und zwar nicht wenige.
Am 7.Mai 1989 gelang eine großartige Mobilisierung unter den Bürgerrechtlern und ihren Sympathisanten. Sie waren in der Lage in sehr vielen Wahllokalen die Auszählungen zu beobachten und die Zahlen an geheimen Orten zusammenzurechnen. Ohne Handy und nur mit wenigen Telefonen, eine organisatorische Meisterleistung. In Ostberlin ergab das Ergebnis 7%, in der Rostocker Innenstadt 5% Gegenstimmen für die verhasste Einheitspartei. Viele hatten Freunde und Bekannte, die nicht gewählt hatten.
Die Politfunktionäre und die StaSi nahmen die Wahlbeobachtungen nicht ernst und verkündeten am Abend des 7. Mai 1989 für Rostock offiziell 99% Ja- Stimmen für die SED. So ähnlich war es überall. Offiziell wurde in der DDR mit 98% zwar das schlechteste Ergebnis für die Einheitsliste seit DDR-Gründung erreicht, aber vor dem Hintergrund des wachsenden Unmutes in der Bevölkerung waren dies im wahrsten Sinne des Wortes „fantastischen Zahlen“.
Die Opposition hatte den Beweis für die dreiste Wahlmanipulation des SED-Regimes nun faktisch in der Hand.
Das war für viele endgültig der Zeitpunkt zu sagen „ Es reicht!“ und auf die Straße zu gehen für echte und faire Wahlen, gegen Betrug und für Reformen des Systems. Spätestens ab Sommer wurde dann praktisch überall über die Zukunft des Landes diskutiert. Daraus erwuchsen die Montagsdemonstrationen bei denen viele mutigen Frauen und Männer ungeachtet möglicher Repressalien für Freiheit und Demokratie eintraten. Die Reaktionen auf die letzten unfreien Wahlen markieren den Beginn der Friedlichen Revolution und läuten des Endes der SED-Diktatur ein. Deswegen dürfen wir dieses Datum nicht vergessen, genauso wenig wie die Bedeutung der Errungenschaft von freien Wahlen. Obwohl ich damals erst eine Erstklässlerin war, haben mich die Erlebnisse der Zeit geprägt. Politische Einmischung bringt Veränderungen. Ob aktiv als Kandidatin oder Kandidat, Aktivistin, oder Wählerin. Jede und jeder kann und darf seine Stimme erheben, sich einbringen und für seine Überzeugung eintreten.
Für uns heute scheint es schon fast selbstverständlich und wir können darauf vertrauen, dass unsere Stimme gezählt wird. Gerade deswegen sollten wir für dieses Recht einstehen und es wahrnehmen.
Claudia Müller, MdB

